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Ein Meer von Daten: Marispace-X vernetzt Ökosysteme

Den Klimawandel verlangsamen, digitale Möglichkeiten der Windenergie erforschen und alte Munition aus dem Meer räumen - zum Jahreswechsel wurde Marispace-X, ein Big-Data-Projekt auf der Grundlage von Gaia-X, gestartet. Warum neue Technologien und Vertrauen nötig sind, um das ungenutzte Potenzial des Meeres an die Oberfläche zu bringen.

Es ist grün, hat Wurzeln, wächst unter Wasser und gilt als Mittel gegen den Klimawandel: Seegras ist ein natürlicher CO2-Speicher. Die Pflanze bindet das im Wasser gelöste Gas und speichert es im Meeresboden. Rund 600.000 Quadratkilometer des Meeresbodens sind von der Zostera-Familie bedeckt. Dabei nimmt das Gebiet von der Größe Frankreichs jährlich etwa 83 Millionen Tonnen Kohlenstoff auf - so viel, wie alle Autos in Italien und Frankreich im gleichen Zeitraum ausstoßen. "Auch vor unseren Küsten wächst Seegras", sagt Jann Wendt, CEO von north.io. "Allerdings ist noch wenig erforscht, welche Umweltbedingungen die Wiesen brauchen, um möglichst viel Kohlendioxid zu absorbieren." Das Problem ist, dass es nicht viele Daten gibt.

Digitalisierung des Ozeans: Selektive Kultivierung von Seegrasfeldern

Wendt koordiniert ein Projekt, das unter anderem genau das ändern soll. Marispace-X, ein Konsortium aus Wissenschaft und Industrie, wurde Anfang 2021 ins Leben gerufen, um die Digitalisierung des Ozeans voranzutreiben. Der Smart Maritime Sensor Data Space X, kurz Marispace-X, soll ein intelligenter Big Data Hub für die Weltmeere werden und ist in Gaia-X eingebettet. 

Erst kürzlich wählte das deutsche Bundeswirtschaftsministerium aus mehr als 130 Anträgen 16 deutsche Vorzeigeprojekte aus, die einen wichtigen Beitrag zur Europäischen Initiative für digitale Infrastruktur leisten können. Das Projekt von Wendt ist eines davon: "Wir wollen maritime Geodaten nutzbar machen, sie mit anderen Quellen verknüpfen und zum Teil unter Wasser verarbeiten."

Um Seegräser besser untersuchen zu können, kombiniert Marispace-X Informationen aus dem Weltraum mit Daten aus dem Meer. "So können wir feststellen, wo die Pflanze wächst und wie viel Kohlendioxid sie gespeichert hat", sagt Wendt. Die umfassenden Analysen zeigen, welche Bodeneigenschaften oder Mikroströmungen die Wiesen brauchen. Das Ziel: Seegras gezielt kultivieren zu können, um Klimaeffekte zu kompensieren. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sieht ein solches Anbauprogramm bereits vor. Doch die Pflanze kann noch viel mehr: Seegras entfernt Plastikmüll aus dem Meer. Mikropartikel verfangen sich in den Pflanzenresten und bilden faserige, schwimmende Kugeln, die von den Wellen an Land gespült werden. Der maritime Datenraum ist nicht anders. "Wir kennen noch nicht einmal einen Großteil seines Potenzials", sagt Wendt. Warum ist das so? "Maritime Daten sind ein echter Schatz! Sie zu bergen ist sehr kostspielig."

Datenverarbeitung unter dem Meeresspiegel: Großer Aufwand, enorme Kosten

Wer mit Daten aus dem Meer arbeitet, muss mit anderen Technologien planen als an Land. Wendt: "Hohe Bandbreiten, wie beim Mobilfunk, sind undenkbar. Die Baudrate unter Wasser ist sehr niedrig." Herausforderungen wie diese prädestinieren Edge Computing und Fog Computing. Das bedeutet: Wo immer möglich, verarbeiten Roboter, Logger oder Sonden Sensorwerte vor Ort. Sie tauschen dann aggregierte Ergebnisse oder kleinere Pakete aus. "Entweder kommen die Daten per Kabel an Land", sagt Wendt: "Oder die Anlagen sind so weit draußen, dass es nur per Funk geht - wenn überhaupt." Bojen sammeln zum Beispiel Daten von Sensorfeldern und übermitteln sie über Mobilfunknetze oder Satelliten. "Wenn das nicht möglich ist, werden die Daten direkt von Schiffen erfasst." Die Folge: enorme Kosten. Diese können sich auf rund 50.000 bis 100.000 Euro pro Schiffseinsatz und Tag summieren. Bedingungen wie diese zeigen: "Maritime Daten sind so wertvoll, dass sie niemand gerne an Dritte weitergibt", sagt Wendt.

Neue Technologien für das Internet der Dinge unter Wasser

Marispace-X soll das ändern. Und zwar auf zweierlei Weise. Zum einen erforscht das Projekt neue Technologien, um den Datenfluss unter Wasser einfacher und kostengünstiger zu gestalten. So steuert das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD ) mit dem Rostock Digital Ocean Lab einen weiteren Anwendungsfall zum Konsortium bei: Das Unterwasser-Testfeld soll neue Systeme und Lösungen für das Internet der Dinge unter Wasser entwickeln und realitätsnah testen. Und zweitens soll Gaia-X bestehende Barrieren zwischen den Akteuren auflösen, damit aus kostspieligen Datenerhebungen ein wirtschaftlicher Mehrwert geschaffen werden kann.

Gaia-X: Der Rahmen für maritime Datenschätze

"Gaia-X und Marispace-X sind eine ideale Ergänzung", sagt Wendt. "Das verteilte Datenökosystem bietet genau den souveränen, sicheren und vertrauenswürdigen Rahmen für den Austausch maritimer Informationen." Auf der Grundlage europäischer Werte und Standards können Interessen ausgeglichen und übergreifende Datenmöglichkeiten genutzt werden. Wendt: "Gaia-X bietet uns offene Standards, um Silos aufzubrechen, und eine Reihe von föderierten Diensten, um unsere Arbeit zu erleichtern." Ein Beispiel für 'Vertrauen und Identität': Wenn Sensoren auf dem Meeresgrund nur sporadisch miteinander verbunden sind, müssen sie dennoch jederzeit sicher identifiziert werden können. Gaia-X wird die notwendigen Bausteine dafür liefern.

Intelligente Möglichkeiten für die Offshore-Windenergie

Bausteine wie diese sollen eine digitale Wertschöpfung auch wenige Meter über dem Meeresspiegel ermöglichen: "Herstellerinteressen haben bisher eine ganzheitliche Betrachtung von Offshore-Windparks verhindert", sagt Wendt. "In manchen Fällen fließen Informationen nur sporadisch. "Marispace-X zum Beispiel will Betriebs-, Wetter- und Meeresdaten zusammenführen. Und zwar nicht nur, um den Zustand der Kraftwerke besser zu überwachen, sondern auch, um innovative Dienstleistungen jenseits der vorausschauenden Wartung zu realisieren. Wendt: "Die möglichen Anwendungen sind noch gar nicht absehbar." Damit das gelingt, müssen reale Windparks im Computer nachgebaut werden: Digitale Zwillinge sind Softwaremodelle, mit denen sich zum Beispiel Anlagen, Maschinen und Serviceprozesse steuern lassen. Durch die Anwendung von Algorithmen der Künstlichen Intelligenz (KI) auf Echtzeitsimulationen lassen sich Trends vorhersagen. Wendt: "Informationen müssen vertrauensvoll und sicher fließen, um intelligente KI-Möglichkeiten für die Offshore-Windenergie zu identifizieren."

Regierungsbehörden, Streitkräfte oder Universitäten: Gaia-X erfüllt die Anforderungen

Apropos Sicherheit: Ein weiterer Anwendungsfall von Marispace-X dreht sich um Munition im Meer. "Altlasten, die nach dem Zweiten Weltkrieg einfach verklappt wurden", sagt Wendt: "Allein in der deutschen Nord- und Ostsee befinden sich 1,6 Millionen Tonnen, das entspricht einem voll beladenen Güterzug von 2.500 Kilometern Länge." Wo die Gefahr in der Tiefe schlummert, ist heute nur teilweise bekannt. Deshalb arbeitet north.io an dem Kataster AmuCad.org, um das Problem der versenkten Munition und Blindgänger (UXOs) weltweit zu dokumentieren. Gaia-X ist auch der zentrale Lösungsbaustein, wenn Behörden, Archive, Streitkräfte und Universitäten ihre Daten für die Kampfmittelbeseitigung gemeinsam nutzen müssen. Denn egal, ob es um die Datenschutzgrundverordnung oder Compliance, um eigene Schutzinteressen oder um Verschlusssachen geht: "Die dezentrale und interoperable Architektur erfüllt die unterschiedlichen Anforderungen der Stakeholder", sagt Wendt. Die Daten können ganzheitlich ausgewertet werden, um Bomben, Granaten und Sprengstoffe zu entschärfen sowie Schadstoffgehalte zu ermitteln: "In Gebieten, in denen sich Munition befindet, sollte zum Beispiel nicht geangelt werden." Erschwerend kommt hinzu, dass north.io zum Teil mit Papierakten arbeiten muss. Allein im deutschen Bundesarchiv summieren sich diese auf eine Länge von 50 Kilometern. "Die Dokumente werden gescannt, wir analysieren sie mit KI und werten die Ergebnisse aus", sagt Wendt. Ein Prozess, der sich über Federated Learning leicht auf andere Archive übertragen lässt. Auch dafür bietet Gaia-X den technologischen Rahmen.

Marispace-X setzt Impulse für Europa und die ganze Welt

Zahlreiche Organisationen haben sich bereits mit Marispace-X assoziiert - darunter auch viele aus dem Ausland. Wendt: "Ob Norwegen, Brasilien oder Australien, der Ozean ist als Datenraum derzeit noch ein Nischendasein. Aber die Fragen, an denen wir arbeiten werden, sind von großer gesamtgesellschaftlicher Relevanz." Der maritime Datenraum soll ein Impulsgeber für Europa und die ganze Welt sein. Die Reedereien haben die Zeichen der Zeit bereits erkannt. Sie rüsten ihre Schiffe mit immer mehr Sensoren aus. So ergänzen sie die Daten ihrer Kundschaft auf Wunsch mit zusätzlichen Parametern, die weitere Analysen ermöglichen. "Ursprünglich haben wir unseren Big-Data-Hub als reines Unternehmensprojekt geplant", sagt Wendt: "Unser Infrastrukturanbieter IONOS hat uns auf Gaia-X und die laufenden Förderanträge aufmerksam gemacht." Letztlich führte eines zum anderen. Bislang gibt es keine Plattformen, die Meeresdaten massenhaft verarbeiten können. "Und schließlich gibt es keine andere Infrastruktur, die die vielschichtigen Bedürfnisse unserer heterogenen Zielgruppen so souverän ausbalancieren kann", sagt Wendt: "Das kann nur Gaia-X." Genauso wie Seegras: Ein Quadratkilometer Wiese unter Wasser speichert fast doppelt so viel Kohlenstoff aus klimaschädlichem Kohlendioxid wie Wälder an Land.

Drei Jahre Laufzeit, 15 Millionen Euro Gesamtbudget

Marispace-X wurde im Januar 2022 mit einer Projektlaufzeit von drei Jahren gestartet. Das Gesamtbudget des Konsortiums, dem neben der Universität Kiel und north.io auch TrueOcean, IONOS, Stackable, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, Fraunhofer IGD, MacArtney Deutschland und die Universität Rostock angehören, beträgt rund 15 Millionen Euro.

Der Artikel erschien zuerst in dotmagazine und wird hier mit der Genehmigung des Autors wiedergegeben.

Datum
Januar 26, 2022
Kategorie
Schutz des Klimas
Autor
Nils Klute
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